Ein außergewöhnlich elastisches Protein haben Wissenschaftler der Universität Heidelberg und des Heidelberger Instituts für Theoretische Studien (HITS) in einer der ältesten Tiergruppen der Welt, den mehr als 600 Millionen Jahre alten Nesseltieren, entdeckt. Es ist Teil des „Waffensystems“, mit dem die Cnidaria eine Art Harpune mit extrem hoher Geschwindigkeit aus ihrem Körper herausschleudern können. Der Fund des bislang unbekannten Proteins beim Süßwasserpolypen Hydra weist darauf hin, dass der molekulare Mechanismus der Elastizität seinen Ursprung bei den Nesseltieren haben könnte und zum Abschuss einer tödlichen Waffe entstanden ist. Da es in seiner Aminosäurensequenz große Ähnlichkeit mit dem Spidroin der Spinnenseide aufweist, haben die Forscher vom Centre for Organismal Studies diesem elastischen Protein den Namen Cnidoin gegeben. Die Forschungsergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „BMC Biology“ veröffentlicht.
Elastische Proteine wurden im Laufe der Evolution in ganz unterschiedlichen Tierstämmen entwickelt und erfüllen oft hoch spezialisierte biologische Funktionen wie zum Beispiel das Elastin in den Lungenbläschen höherer Wirbeltiere, das Resilin in den Flügelgelenken von Insekten oder das Spidroin in den Fäden der Spinnenseide. Sie verleihen den jeweiligen Geweben mechanische Eigenschaften, die weit über denen künstlicher Materialien liegen. Als gemeinsames Merkmal besitzen diese Proteine – sogenannte Elastomere – strukturell ungeordnete, sich wiederholende Proteinsequenzen, die bei Streckung des Moleküls Energie speichern, um diese nach Entlastung in Form einer Bewegung abgeben zu können. Diese Bewegungen können rhythmisch wiederkehrend sein wie in unseren herznahen Blutgefäßen. Oder es handelt sich um einzelne, explosionsartige Bewegungen wie beim Sprung eines Grashüpfers.
Das Wissenschaftlerteam um Privatdozent Dr. Suat Özbek und Prof. Dr. Thomas Holstein vom Centre for Organismal Studies (COS) konnte mit seinen Untersuchungen am Süßwasserpolypen Hydra zeigen, dass das Cnidoin Teil des Cnidaria-Waffensystems – der Nesselkapseln – ist. Diese Organellen dienen Quallen, Korallen und Seeanemonen zum Beutefang und zur Abwehr von Feinden. Bei ihrer Berührung wird innerhalb von Nanosekunden aus dem Innern einer solchen unter hohem Druck stehenden Kapsel ein Schlauch wie eine Harpune herausgeschleudert. Bei dem „Abschießen“ dieses Nesselfadens handelt es sich um einen der schnellsten im Tierreich bekannten Prozesse. An der Spitze mit einer Art Stilett versehen, werden durch den Nesselfaden Gifte injiziert, die den Angreifer oder das Beutetier innerhalb von Sekunden lähmen oder töten. „Das Cnidoin ist dabei Bestandteil der Kapselwand, die vor der Entladung und dem Abschuss der ,Harpune‘ elastisch gedehnt ist“, so Dr. Özbek.
Gemeinsam mit weiteren Forschern in Heidelberg und München haben die COS-Wissenschaftler die biomechanischen Eigenschaften des Cnidoins untersucht. Dazu wurden Kraftmessungen an Einzelmolekülen sowie Computersimulationen durchgeführt. Die besonderen Eigenschaften des elastischen Proteins sind wesentlich verantwortlich für die enorme Beschleunigung der „Harpunenspitze“, die während des Entladungsprozesses auftritt und nach Angaben von Dr. Özbek fünfmillionenfach so hoch ist wie die Erdbeschleunigung. „Die Cnidoin-Eigenschaften sind vergleichbar mit denen anderer Elastomere. Das Cnidoin weist aber vermutlich durch starke Kreuzvernetzung zu einer dichten Kapselwandstruktur einen ungewöhnlich schnellen Rückstoß auf.“
Wie der Wissenschaftler betont, ist der molekulare Mechanismus der Elastizität im Tierreich mehrfach unabhängig voneinander entstanden. „Cnidoin ist allerdings das evolutiv älteste elastische Protein, das bisher beschrieben wurde“, so Suat Özbek. „Daher gehen wir davon aus, dass eben diese Elastizität ihren Ursprung bei den Cnidaria hat und sich hier als Teil des beschriebenen ,Waffensystems‘ entwickelt hat.“
An den Forschungsarbeiten waren Prof Dr. Wolfgang Petrich vom Kirchhoff-Instituts für Physik der Universität Heidelberg sowie Prof. Dr. Frauke Gräter und Dr. Davide Mercadante vom Heidelberger Institut für Theoretische Studien (HITS) beteiligt. Außerdem hat daran der Physiker Dr. Martin Benoit von der Ludwig-Maximilians-Universität München mitgewirkt.
Originalpublikation:
A. Beckmann, S. Xiao, J.P. Müller, D. Mercadante, T. Nüchter, N. Kröger, F. Langhojer, W. Petrich, T.W. Holstein, M. Benoit, F. Gräter and S. Özbek: A Fast Recoiling Silk-like Elastomer Facilitates Nanosecond Nematocyst Discharge, BMC Biology.2015, 13:3 (16 January 2015), doi: 10.1186/s12915-014-0113-1
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Das HITS (Heidelberger Institut für Theoretische Studien) wurde 2010 von dem Physiker und SAP-Mitbegründer Klaus Tschira (1940-2015) und der Klaus Tschira Stiftung als privates, gemeinnütziges Forschungsinstitut gegründet. Es betreibt Grundlagenforschung in den Naturwissenschaften, der Mathematik und der Informatik. Zu den Hauptforschungsrichtungen zählen komplexe Simulationen auf verschiedenen Skalen, Datenwissenschaft und -analyse sowie die Entwicklung rechnergestützter Tools für die Forschung. Die Anwendungsfelder reichen von der Molekularbiologie bis zur Astrophysik. Ein wesentliches Merkmal des Instituts ist die Interdisziplinarität, die in zahlreichen gruppen- und disziplinübergreifenden Projekten umgesetzt wird. Die Grundfinanzierung des HITS wird von der Klaus Tschira Stiftung bereitgestellt.
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